SELINITSA 2

Selinitsa in Messenien auf der Peloponnes, Griechenland

 

 

 

Die einundsechzigste Woche unserer Reise: Montag, 06. bis Montag, 13. Januar 2020

 

 

 

Innerhalb eines jeden Tages vor und während dieser Reise boten uns immer schon Rituale die Rahmen für schöpferische Freiräume. Neben den in jeweils eigenen Rhythmen wiederkehrenden Invarianten, die überall auftauchen, so etwa der Wohnungsputz, das Wäschewaschen, das Zubereiten und Verspeisen von Mahlzeiten, die Hundespaziergänge, bilden sich an manchen Orten aber ganz eigene Gewohnheiten heraus. Hier, in der Bucht des kleinen Mondes, ist es der allmorgendliche Gang zum öffentlichen Brunnen.

 

Coco tigert unruhig vor der Haustüre auf und ab, ihr Freudenschwanz bringt die im schwarzen Leinenbeutel bereitstehenden leeren Weinflaschen in Schwingung. Mit geübten Griffen lege ich ihr das neue Geschirr aus Lavrion um Brustkorb und Hals und wir treten hinaus in den Garten. Auf der anderen Seite des Eisentores, das ich langsam nach links verschiebe, nimmt unser Weg hinunter ans Meer seinen Anfang. Die wärmende Sonne plötzlich auf den Schultern widerstehe ich (noch) der Versuchung, meinen Schal zu lösen. Aus Athen habe ich einen grippalen Infekt mitgebracht, von dem ich hier, in den Mani, langsam genese. Der Gesang eines grün-gelben Finkenvogels bindet meine Aufmerksamkeit, während Coco einer Katze hinterherwittert, die Schutz am nächsten Gartentürchen sucht. Langsam geht es den Weg hinunter. Coco hält immer wieder unvermittelt an, gefesselt von Geruchserlebnissen, die mir verborgen bleiben. Ich dagegen orientiere mich mit Augen und Ohren. Rechts und links der Straße unter den im Morgenlicht schimmernd bebenden Blättern der vielen frisch beschnittenen Olivenbäume, erstrecken sich wild wuchernde Wälder aus Gräsern, Kräutern und gelben Blüten. Wir haben Zeit. Erst nach der Einmündung in die Hauptstraße begegnen wir einem Menschen. In seinem Fahrzeug, geparkt in der Hofeinfahrt eines der schönen Steinhäuser, sitzt ein junger Mann, der unser Vorübergehen wohl nicht bemerkt. Schon an dieser Stelle, dann aber mit jedem weiteren Meter deutlicher, erreicht uns das brandende Rauschen der Ägäis. Beim Überqueren des trockengefallenen Flusses gerät sie dann in mein Sichtfeld: horizontale Streifen in unbenennbaren Blautönen, immer in schillernder Bewegung, umrahmt von einem blassen weiten Himmel und weiß schäumenden Gischtringen, die gegen das steinige Ufer lecken. Noch immer bleiben wir alle paar Meter stehen, um unsere jeweiligen Erlebnisse auszukosten. Während Cocos Interesse weiterhin dem Wegesrand gilt, empfinde ich angesichts dieser blauen Weite Gefühle von Freiheit und Glück! Gegenüber der weißen Kapelle streichen zwei ältere Leute still ihr Boot – auch sie sehen mich nicht, verdeckt von den Büschen in ihrem Vorgarten. Noch einige Meter, und wir erreichen den öffentlichen Trinkwasserbrunnen. Hier binde ich Coco fest, denn sie springt gerne den Katzen hinterher, die, anders als mein Hund und immer schneller als er, das Terrain gut kennen und sich während des Wettrennens sicher nicht verlaufen werden. Meinen Beutel deponiere ich auf einem gemauerten Vorsprung und fülle nun Flasche für Flasche mit dem kostbaren Gut. Überall auf unserer Reise versuchen wir, Plastikflaschen zu vermeiden, was nicht immer gelingt. Hier, im äußersten Süden des griechischen Festlandes, ist das kein Problem. Konzentriert auf die Griffe meiner Hände bemerke ich spät, wie eine junge Frau in Begleitung eines freilaufenden größeren Hundes hinter mir vorübergeht. Während ich ihnen kurz hinterherblicke, zieht Coco knurrend an ihrer Leine in die gegenläufige Richtung, aus der sich bedächtig eine reichlich zerzauste Katze nähert. Coco, außer sich vor Jagdfieber, erlebt wieder einmal eine der ungezählt häufigen Situationen, in denen eine Desensibilisierung angemessen wäre (heute findet eher eine Reizüberflutung statt). Die Katze legt sich in kurzer Distanz zum Sonnenbad auf die wärmende Asphaltstraße. Schweigend bin ich noch eine Weile beschäftigt, baue dann die gefüllten und verkorkten Flaschen in den Leinensack und führe Coco an kurzer Leine an ihrer Verhaltenstherapeutin vorbei. Beide machen ihre Sache gut. Die Katze bleibt liegen und Coco wird von ihrer Nase prompt in eine andere Richtung dirigiert. Wieder stehe ich überwältigt vor dem großen Blau! Sein Rauschen wird hier zwischen Kapelle, Flussbett und den massiven Häusern auf natürlichem Wege verstärkt – nicht zum Donner, aber alle übrigen Geräusche dieses Morgens maskierend. Erst nach einem weiteren Stück Weges, die Straße bergaufwärts, nehme ich das Katzenkrähen der Bussarde wahr, die hier an jedem Vormittag miteinander Kapriolen fliegen. Und auch das Zwitschern der Rotkehlchen, das vereinzelte Bellen der Wachhunde und den schallenden Ruf eines Gockelhahnes. Vor der letzten Kurve überholt uns ein Auto mit französischem Kennzeichen – unmittelbar danach ein griechisches Fahrzeug mit Anhänger. Aus dem geöffneten Fenster ruft ein lachender Mund „Kalimera!“

 

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