Santa Maria di Leuca, Salento, Puglia, Italia
Die siebzigste Woche unserer Reise: Montag, 09. bis Montag, 16. März 2020
Konzentrierter als bisher an unseren Buchvorhaben zu arbeiten, einige Kapitel abzuschließen – unter dieser Prämisse hatten wir unsere Reise fortgesetzt. Wir ließen uns von Griechenland hinüber in den Salento bringen, um nach Leuca zu kommen, einen Ort, von dem wir wissen, dass es sich dort ungestört arbeiten lässt. Seit 10 Tagen genießen wir nun die produktive Ruhe am südlichsten Punkt des italienischen Festlandes und meiden den Kontakt mit Einheimischen, denn aus den bisherigen Erfahrungen wissen wir, dass wir in jedem Dorf, in jeder Stadt Künstler*innen treffen, die wir näher kennenlernen, mit denen wir viel Zeit verbringen würden.
Über eine Freundin, die uns für die Dauer wenige Tage besuchte, kamen wir in diesem Zeitraum schließlich auch mit Einschränkungen in Berührung, die die Corona-Pandemie in Italien verursacht. Am Montag vor einer Woche hat die Regierung ihre Vorsichtsmaßnahmen auf ganz Italien ausgeweitet – bis dahin galten sie nur für einige Gebiete im Norden des Landes. Es gibt keine Ausgangssperre, aber die Empfehlung, das Haus nur in dringenden Fällen zu verlassen, beispielsweise zum Einkaufen, wenn man zur Arbeit gehen muss, Arztbesuche erledigen oder alten oder kranken Menschen helfen möchte. Wer unterwegs ist, muss eine vom Innenministerium ausgegebene Selbsterklärung mit sich führen und damit rechnen, von der Polizei kontrolliert zu werden. Das Besuchen von Freunden oder Spaziergänge sind untersagt. Kinos, Theater und Museen sind landesweit geschlossen, mittlerweile auch Bars und Restaurants. Lebensmittelgeschäfte und Apotheken sind eingeschränkt geöffnet.
Trotzdem sind wir am Dienstag vormittags losgefahren, um Utas Freundin am 250 Kilometer entfernten Flughafen in Bari abzuholen. Auf dem Rückweg nach Leuca legten wir in der uralten Città bianca (weiße Stadt) Ostuni eine Rast ein – bislang unser letzter Besuch in einer italienischen Gaststätte. Wir registrierten, wie Bedienungen in den Bars Schutzhandschuhe und Mundschutz trugen und in den Restaurants die Tische, wie vorgeschrieben, einen Meter auseinandergerückt wurden. Am Nachbartisch bestellte ein italienischer Gast eine Flasche Corona-Bier. Gestern haben wir die Freundin wieder nach Bari zurückgebracht. Ihr vor Monaten gebuchter Rückflug nach Deutschland war vom Reiseveranstalter ohne Kostenrückerstattung gestrichen worden; sie war deshalb gezwungen, einen teuren Platz auf einer der wenigen noch verkehrenden Maschinen zu kaufen. Unsere mehr als siebenstündigen Fahrt durch Puglia unterschied sich nur in Details von der „Normalität“: an den Tankstellen waren die meisten Bars geschlossen und der Flughafen glich einer Geisterstadt, in der kaum ein Mensch zu sehen war (dafür war die Bar geöffnet). Von der Polizei, der wir hin und wieder begegneten, wurden wir kein einziges Mal angehalten.
Mit Schrecken sahen wir, wie eine weitere Epidemie hier im Süden Italiens grassiert: das Bakterium Xylella Fastidiosa, von Zikaden beim Trinken übertragen, verstopft seit mehreren Jahren schon die Wasserkanäle vieler Olivenbäume. Die betroffenen Pflanzen verdursten. Das große Sterben trifft Bäume jeden Alters. Auch mehrhundertjährige dicke Stämme mit gewaltigen Kronen werden kahl und kalt. Im Unterschied zu den Olivenbäumen können wir versuchen, den Kontakt mit Überträgern zu vermeiden. Unsere ursprünglich selbstgewählte Isolation könnte uns vor einer Ansteckung durch das Corona-Virus schützen; ob wir das Virus bereits in uns tragen, wissen wir natürlich nicht.
Tag um Tag sitze ich staunend vor dem doppelten Blau des Meeres und des Himmels. In der östlichen Ferne zeigen sich heute erstmals die undeutlichen Umrisse hoher Gebirge: Albanien, Epirus, Korfu? Während ich schreibe und dabei auf die Zugvögel warte, denke ich immer wieder an Giovanni Boccaccios Buch Decamerone. Die darin enthaltenen 100 Novellen werden von 10 jungen Leuten erzählt, die sich 1348 vor einer Pestepidemie in ein Landhaus bei Florenz flüchten. Nach 10 Tagen verließen die Protagonisten ihren Zufluchtsort. Wir aber bleiben noch eine Weile.
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