Die zwölfte Woche unserer Reise: Donnerstag, 30. Dezember 2021 bis Mittwoch, 05. Januar 2022
Der Bussard rast hakenschlagend unter den niederen Olivenbäumen dahin, im Visier einen kleinen Vogel. Hier auf der Mani entwickelt er sich scheinbar zu einem Habicht. Jeden Morgen frühstücken wir vor einer Aussicht, die uns an jedem Tag aufs Neue fesselt. An manchen Tagen leuchtet ein hellscheinendes Meer hinauf zum dunkelverhangenen Wolkenhimmel, an anderen wiederum brilliert ein doppeltes Blau. Die warmen Tage sind zurückgekehrt - wir verlagern alle Aktivitäten ins Freie. Sobald die Sonne untergegangen ist, wird es fast schlagartig kühl.
Als dann das neue Jahr beginnt, entzündet jemand in Àgios Nikólaos ein Feuerwerk, das im Sekundenrhythmus Schüsse in die Ruhe der Nacht jagt. Gleich monströser Trommelwirbel hallen die Explosionen von den Hängen des Taΰgetos wider und fliegen in Schallgeschwindigkeit zurück in die Bucht.
Uta arbeitet intensiv an neuen Blütenbildern und malt großformatige Portraits von Gestalten der griechischen Mythologie, um die Wände ihres Ateliers damit zu schmücken. In meinem Glas-Studio habe ich das erste der vier Bilder beendet, die ich für ein Murnauer Kunstprojekt male. Unter dem Arbeitstitel: „Eine Minute/one minute/une minute/un minuto/éna leptó … im Leben mit Covid“ sollen in meinen Bildern die Positionen der Mitglieder der KünstlerInnengruppe Artists in Masks vorgestellt und diskutiert werden. In diesem konkreten Fall kann die Pandemie sogar als eine Chance erkannt werden, denn ohne sie wäre diese interdisziplinäre und paneuropäische Gruppe wahrscheinlich nie entstanden. Aus den pandemiebedingten Restriktionen ist eine europaübergreifende Zusammenarbeit erwachsen, die primär der Völkerverständigung und damit der Friedenssicherung dient. In die kurze Bilderserie, die ich zunächst ganz in meinem Stil schaffen werde, sollen Gastbeiträge von Artists in Masks eingearbeitet sein, Reflektionen über die veränderte Zeitwahrnehmung seit Beginn der Pandemie, z.B. bei Covid-PatientInnen, Infizierten, Geimpften, ImpfgegnerInnen, Arbeitskräften im Gesundheitswesen, Hinterbliebenen von Verstorbenen, usw.
Am Montag haben wir uns erstmals frei genommen und einen Ausflug nach Kardamíli gemacht, einem uralten Dorf, das bereits in Homers Iliás erwähnt wird. Im alten Ortsteil finden sich noch Häuser im venezianischen Stil, alle Spuren des Mittelalters, der Antike und der Bronzezeit sind jedoch getilgt. Dafür erleben wir majestätische Zypressen, grüne Olivenhaine, rollende Hügel – und in Sichtweite die schneebedeckten Gipfel eines Hochgebirges. Noch rechtzeitig zum Sonnenuntergang schaffen wir es nachhause. Eine goldene dünne Linie zurücklassend, senkt sich eine dunkelgelbe Sonne gerade hinter ein Wolkenband, gewebt aus grauen Lilatönen. Wenig später erscheint die Lichtkugel in einem tiefer liegenden Nebelfenster, nun in grellen Orangefarben. Während sie langsam abtaucht, zersetzt sich gleichzeitig alle Form und mündet in ein einziges rotes Rauschen, das sich weit hinauf ins Firmament ausbreitet. Darunter aber herrschen weiter Grautöne, sich von Minute zu Minute trübend und letztlich ins Schwarz verdunkelnd.
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