Agriakóna 10

Agriakóna in Káto-Rígklia, Messinías, Dytikí Máni und Ínachos, Argolís, Elláda

 

Die zehnte Woche: Freitag, 09. bis Freitag, 16. Dezember 2022

 

Heute Abend haben wir die hoffentlich letzte Version der Texte für eine Dokumentation redigiert, die über den Internationalen Künstler*innenaustausch erscheinen soll, der im vergangenen Sommer von der Künstlervereinigung Murnau e.V. veranstaltet wurde. Es wird Zeit, dass das Heftchen publiziert wird. Verantwortlich zeichnen Greta Rief und Uta; ich agiere als lästiger Fehlerfinder – und ich bin gründlich. Dabei waren wir erst kurz vor Sonnenuntergang von einer Reise zurückgekommen, denn am Tag nach unserer Teilnahme an einem experimentellen Workshop – „empirisches Schreiben durch eine historische Perspektive“ – hatten wir die Máni in Richtung Norden der Peloponnes verlassen.

Idee, Konzept und Animation des Workshops „Lord Byron’s challenge“ lagen in den Händen der jungen Schauspielerin Christína Tziálla; veranstaltet wurde das Spectaculum im Έδρα Kalliergon, hoch oben im Viertel «Γονάτσα» unseres Nachbardorfes Νεοχώρι. Christína inszenierte einen historischen Rückblick auf den Sommer 1816 in einer äußerst atmosphärischen Umgebung vor prasselndem Kaminfeuer und entferntem Gewittergrummeln. Neben Uta und mir nahmen der in Griechenland bekannte Radiomoderator Andréas Papastamatíou und seine Frau María teil. 206 Jahre zuvor waren die Schriftstellerin Mary Godwin und ihr Partner Percy Shelley zu Gast in der Schweizer Villa Diodati, die ihr Freund, der romantische Dichter Lord Byron gemietet hatte. Zu ihnen gesellte sich Marys Cousine Claire, die mit Lord Byron eine Liebschaft verband und Byrons Leibarzt John William Polidori, dem Schöpfer der ersten Vampirerzählung der Weltliteratur. Zusammen blieben die fünf wegen der andauernden Regenfälle tagelang eingesperrt. Dieser Sommer wurde von vielen als langer und endloser Winter beschrieben. Eines Nachts ließ sich Lord Byron ein kreatives Spiel einfallen. Er schlug vor, dass jeder von ihnen eine erschreckende Geschichte schreiben sollte. Mary hatte gerade ihr frühgeborenes Kind verloren und litt unter Depressionen. Ein Gespräch mit Polidori wirkte katalysatorisch; die Debatte drehte sich um die Möglichkeit, ob Elektrizität einen Menschen wieder zum Leben erwecken würde. Dies war der Zeitpunkt, an dem Mary Godwin durch den Erebus der romantischen Bewegung und ihren persönlichen Kummer ein literarisches Meisterwerk hervorbrachte, das auch dazu bestimmt war, das feministische Schreiben wiederherzustellen. In der Villa Diodati wurde „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ geboren. Mit ihrem Roman kritisierte die Autorin den in der romantischen Bewegung idealisierten Individualismus und damit implizit auch den literarischen Held ihrer Zeit, Lord Byron. Für Uta und mich mündete die intensive Auseinandersetzung mit ihrer Arbeit in die Reflektion und literarische Verarbeitung erschreckender autobiographischer Erlebnisse.

Obwohl gut vorbereitet, haftete an der Fahrt nach der Argolís dennoch etwas Fluchtartiges, und besonders Uta litt zunächst unter schweren Gedanken und Schlaflosigkeit. In jeder Hinsicht erschöpft bezogen wir dann vergangenen Sonntag eine bescheidene Giebelwohnung im Dorf Ínachos, benannt nach einem Flussgott der griechischen Mythologie, der für die Fruchtbarkeit der Ebene von Árgos zeichnet, die schon Homer besang. Die Begegnung mit den zahlreichen Straßenhunden, die hier zwischen endlosen Orangenplantagen und Konsummüll leben, zwang uns jäh zurück in die aktuelle Realität. Als wir am nächsten Morgen um acht Uhr zum Spaziergang aufbrachen, hatte ich 12 Stunden geschlafen und nahm einen dicken Knüppel mit ins Feld. Orange-Rot schien das Morgenlicht gegen Árgos, der ältesten ununterbrochen bewohnten Stadt in Europa.

Natürlich nutzten wir den Besuch, um die mykenischen Kunstschätze kennenzulernen, die Reste der zweitältesten Hochkultur auf griechischem Boden. Traumgleich wandelten wir zwischen kyklopischen Mauern der goldreichen und breitstraßigen Burg-Städte der Bronzezeit und den selben Bergen, auf die einst Agamémnon blickte - Mykínes, Kástro Lárisas und das Iraíon von Árgos. Als wir später vor den Überbleibseln der griechisch-archaischen Zeit und den Ziegelbauten der römischen Eroberer standen, wurden uns die historischen Dimensionen bewusst – sie waren mehr als 1000 Jahre später als die mykenischen Bauwerke entstanden.

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