Rígklia, Messinías, Dytiki Máni, Elláda
Die siebente Woche unserer Reise: Donnerstag, 25. November bis Mittwoch, 01. Dezember 2021
Kurz nach dem Sonnenaufgang finde ich auf den Steinen vor den Atelierfenstern einen toten Mönchsgrasmückenhahn. Seine Federkappe weist ihn als ein Schwarzköpfchen aus. Genau wie wir hat sich dieser Vogel im Garten des Panteleímonas zum Überwintern eingefunden. Er war wohl gegen eine der hohen Glasscheiben geflogen und hat sich dabei tödliche Verletzungen zugezogen. Sorgsam hebe ich den kalten Leib auf, trage ihn hinaus in die Kleewiesen, wo ich ihn den Katzen überlasse.
Nach der täglichen Hausarbeit erwartet uns auf dem Balkon ein kurzes Frühstück mit weiten Blicken über ein heute dunkelblaues Meer! Zum Beschreiben dieser Sicht fällt mir nicht viel ein – sie ist schlicht schön.
In den ersten Wochen wähnten wir uns unterwegs zwischen den Hundertschaften verschlungener Holzplastiken ein einer Art olivenbehangenen Irrgartens. Die zahllosen Durchgänge im Olivenhain - ein Umherirren im Labyrinth. Heute Abend fällt uns auf, wieviel Wege und Pfade wir bereits kennen, wie gut wir uns orientieren können. Dieser Lernfortschritt beruht auf einer bestimmten Anzahl an Lerndurchgängen, innerhalb derer es uns sukzessive gelang, den Informationsgehalt des Labyrinthes zu reduzieren.
Während der Nacht hat ein wütender Sturm eine der Mülltonnen geöffnet und umgekippt. Neben der allmorgendlichen Obstlese befreie ich den Garten also noch vom großzügig verteilten Kunststoffmüll. Glücklicherweise hat sich der Wind beruhigt, sein Tempo genügt aber, mir beim Wasserholen die Haare zu trocknen. Heute erfahren wir von unserer Griechisch-Lehrerin Sophia, die mögliche Bedeutung unserer Flurbezeichnung „Agriokòna“; die Formulierung bedeutet in etwa „Versteck in der Wildnis“.
Das Wetter wechselt zwischen Regen und Sonnenschein. Zwischendurch wird es richtig warm – ich male bei geöffneter Türe in einem Lichtkegel an Utas neuer Staffelei am Àdis-Bild weiter; heute bearbeite ich die dekorative Holzpaneele, die den Hintergrund seines düsteren Domizils von der lieblichen Landschaft abgrenzt, die ihm als Gott im gleichen Maße gehört, wie seinen Brüdern. Wie auch bei menschlichen Männern nicht unüblich, zeigt sie Symbole, die den gesellschaftlichen Status des Hausherrn darstellen; bei einem Jäger etwa Hirschgeweihe, bei einem kommunistischen Politiker Hammer und Sichel und bei einem Gott der Unterwelt Würmer und Insekten.
Im Laufe des Abends rollt ein schweres Gewitter über die Berge heran; gegen 21 Uhr fällt der Strom aus. Ich schreibe einen Brief an meine Tochter.
Schwül beginnt der nächste Tag. Der Sturm hat sich gelegt, nicht ohne uns Kunststoffsüchtigen zuvor bunte Läufer, Hausumrandungen und Fußabstreifer auszulegen. Felder, Flur und Strand dekoriert mit Verpackungsmüll. Noch toben und schäumen die Fluten bis dicht an die Küstenstraße hinauf. Die Himmelszeichnungen verändern sich jetzt mit hoher Geschwindigkeit. Gewaltige Wolkenmeere ziehen von weit heran, schieben kurzlebige Kontinente amorpher Watte ineinander. Das Grau rutscht bedächtig, aber stetig vom Himmel herunter, dem Meer entgegen. Ich steige hinauf zum Balkon, um nachzusehen – der unserer Bucht sonst gegenüberliegende erste Finger der Peloponnes ist unsichtbar geworden.
Mein Radiusköpfchen sendet Schmerz-Signale. So überlasse ich Uta die Streicharbeit komplett und kümmere mich um die täglichen Hausarbeiten. Zwischen zwei Regenschauern stapfe ich mit Coco durch rot-sumpfiges Gelände hinunter zum Wasser holen. Während der vergangenen Nacht hat das heranstürmende Meer die Strände geflutet, Steinmauern übersprungen und die Küstenstraße eingenommen. Dort, wo seine weiten Bogen Abschnitte und Wegesränder freigeben, hinterlässt das Wasser sanfte Sandwellen. Sogar bis hinauf in die Gasse, über die wir dem Brunnen entgegengehen, hat die Ägäis Sicheln aus Seetang und Steinchen gelegt.
Heute endlich haben wir Utas Atelier eingerichtet. Bislang hat sie vorwiegend bei mir im Wintergarten gemalt oder zwischen „Tür und Angel“ improvisiert. Nun gebietet sie über einen hellen, meist sonnendurchfluteten Saal, der Ausblicke durch Fenster in alle vier Himmelsrichtungen gewährt. Schon beim Hinaufsteigen über die rechtsgewendete Treppe streift Licht und Weite die Stirn. Beschirmt noch von Aléxandros‘ kühnem Entwurf eines Halbkastens aus Eisenstangen, auf dem Uta jetzt bespannte Keilrahmen lagert, bietet sich bald eine freie Aussicht in Höhe der zugegebenermaßen lediglich zweckmäßigen Bodenkacheln. Dann aber, angekommen auf dem Plateau vor dem Kaminofen und der großzügig bemessenen Fenstertüre, dominieren zwei weiße Kuben und ein brauner Tisch das Terrain – Orte zum Schaffen! Von einem zweiten Punkt aus lässt sich die Atmosphäre dieses besonderen Zimmers in noch angemessenerer Weise würdigen – geradewegs vier Schritte in den Raum getreten, dann lässt man sich nach rechts auf den rotbespannten Thron fallen. Die Füße auf die hölzerne Truhe, die mir 1983 eine Ordensfrau in Würzburg schenkte, in der Hand ein Glas, gefüllt mit Rotwein und dann den Blick schweifen lassen. Auf diese Weise übt Uta ihre Herrschaft aus.
Später, nach dem Griechisch-Unterricht in Stoúpa, versuchen wir herauszufinden, wie wir in Griechenland an eine dritte Corona- (Auffrischungs-) Impfung kommen können. Angekommen am KEP in Kardamili, Κέντρα Εξυπηρέτησης Πολιτών, zu Deutsch: „Bürgerservicezentrum“ ruft uns eine freundliche Dame über geschätzte drei Meter Informationen zu: Sie warte auf eine Gesetzesänderung. Noch sei nichts bekannt. Die Änderung betreffe alle Nicht-Griechen, die sich in Griechenland aufhalten und bereits zwei Impfungen im Ausland erhalten haben. „Unter welchen Bedingungen Sie eine dritte Impfung in Griechenland erhalten dürfen, ist Gegenstand der ausstehenden Gesetzesänderung. Eine Empfehlung: informieren Sie sich über Telefonate oder E-Mail-Anfragen, die Sie von Zeit zu Zeit lancieren“. Wir trinken erst einmal Kaffee und verzehren Spiegeleier auf einem sonnenbeschienenen Platz in diesem so schönen alten Ort.
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